Jetzt investieren
Einloggen
Inflation: Tage der Wahrheit

Konjunktur: Kranker Mann Europa

Das Wichtigste in Kürze:

  • Europäische Vermögenswerte erfuhren dieses Jahr hohe Verluste. Demgegenüber steht bisher aber noch ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts.
  • Der Pessimismus ist derzeit das Resultat einer Kombination von Problemen, mit denen sich die europäische Wirtschaft aktuell konfrontiert sieht.
  • Auch wenn Konjunkturdaten bisher noch robust ausfallen, deuten Signale auf eine rezessive Wirtschaftsentwicklung während der nächsten Monate hin.

Ein Blick auf die Wachstumsraten der Eurozone im Jahr 2022 zeigt ein Bild, das angesichts der heftigen Verluste bei europäischen Vermögenswerten zunächst überrascht: In den ersten drei Quartalen wuchs das reale Bruttoinlandsprodukt im Euroraum im Durchschnitt jeweils um solide 0,5 %, wobei das zweite Quartal mit 0,8 Prozent den größten Zuwachs verzeichnete. Dies liegt zwar deutlich unter dem durchschnittlichen Quartalswachstum von 1,2 Prozent, das die Eurozone im Zuge der Erholung von der Coronakrise im Jahr 2021 verzeichnet hatte, aber immer noch über dem langfristigen Durchschnitt von 0,4 Prozent, der in historischen Berechnungen bis ins Jahr 1995 zurückreicht. Verglichen mit den erschütternden Verlusten, die die Anleger bei allen Arten von europäischen Vermögenswerten hinnehmen mussten, sieht dieses Bild etwas seltsam aus: Der Euro Stoxx 50 Total Return Index stürzte um rund 22 Prozent auf Jahrestiefststände ab, der Euro fiel gegenüber dem US-Dollar um bis zu 15 Prozent, REITs aus der Eurozone gaben um fast 45 Prozent nach und die Indizes für Staatsanleihen der Euroländer verloren bis zu 18 Prozent.

Ein Teil dieser Schwäche lässt sich durch die Multiplikatorenkompression angesichts der explodierenden Inflation und Renditen sowie durch steigende Risikoprämien in allen Anlageklassen erklären, da die Risiken für die europäische Wirtschaft aktuell enorm sind. Darüber hinaus deutet jedoch das schiere Ausmaß der Marktverluste darauf hin, dass die Anleger für Europa eine Phase ausgeprägter, regional konzentrierter wirtschaftlicher Schwäche antizipieren, und die Euro-Wirtschaft in eine schwere Rezession stürzt. Die Diskrepanz zwischen den realisierten Wachstumsraten in der Eurozone und den an den Märkten eingepreisten Erwartungen lässt die Frage offen, wo, wie und warum das Wirtschaftswachstum im Euroraum von einem vormals soliden Niveau über die kommenden Monate einbrechen soll.

 

Abb. 1: Stimmungsindikatoren der EU-Kommission für die Eurozone EU-SentimentQuelle: LIQID, Bloomberg. European Commission Confidence Indicators (Eurozone). Zeitraum: 01.01.1997 - 30.11.2022.

 

Abseits des ökonomischen Rückspiegels zeigen sich zeitnahe Wachstumsindikatoren in schlechter Verfassung

Die Zahlen zum Bruttoinlandsprodukt sind eindeutig die umfassendste Indikation für das Gleichgewicht und die Dynamik von Angebot und Nachfrage in einer Volkswirtschaft. Genau aus diesem Grund hinken sie aber zeitlich stark hinterher. Um zeitnahe Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie sich die Wirtschaftstätigkeit in den letzten Wochen und Monaten entwickelt hat, hilft es oftmals, einen Blick auf höherfrequente Indikatoren für die realisierte Wirtschaftstätigkeit zu werfen. Dazu zählen unter anderem auf der Produzentenseite die Industrieproduktion und auf der Verbraucherseite die Einzelhandelsumsätze. Die europäische Industrie schnitt im Laufe des Jahres 2022 mit einem mageren, aber positiven monatlichen Durchschnittswachstum von 0,1 Prozent – in etwa gleich den langfristigen Durchschnittswerten – noch einigermaßen solide ab. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch eine konzentrierte Schwäche in energieintensiven Industriesektoren (Chemie, Metalle, Raffinerie, Papier und Mineralien), die zirka 16 Prozent der gesamten Industrieproduktion der Eurozone ausmachen. Hier schrumpfte die Produktion im Vormonatsvergleich um etwa 0,9 Prozent, was den fünften Verlust des industriellen Wachstums in Folge bedeutete. Die Probleme der energieintensiven Sektoren bergen die Gefahr, sich nachteilig auf die Gesamtwirtschaft auszuwirken, indem Produktion, Beschäftigung oder Inflation auch in anderen Bereichen betroffen sein können, wodurch sich die Wirtschaftsschwäche ausbreitet.

Auf der Verbraucherseite ist die Schwäche recht offensichtlich, und die inflationsbereinigten Einzelhandelsumsätze sind in den Euroländern seit Jahresbeginn nicht gewachsen. Der stagnierende Konsum spiegelt die Besorgnis hinsichtlich der Lebenshaltungskostenkrise in Europa angesichts der explodierenden Energie- und Schuldendienstkosten sowie die Entwicklung am Arbeitsmarkt. Das fehlende Wachstum bei diesen Treibern des Bruttoinlandsprodukts ist zwar ein Anzeichen für eine schwache gesamtwirtschaftliche Aktivität und impliziert eine starke Verlangsamung des Wirtschaftswachstums im Euroraum, es bedeutet jedoch nicht unbedingt einen BIP-Rückgang. Worauf beruht also die Überzeugung vieler Ökonomen, die für die Eurozone eine deutliche Rezession im Winter erwarten? Derzeit geht der Median der Wachstumsprognosen von einem quartalsweisen Rückgang des Euro-BIP von jeweils 0,4 Prozent für das Schlussquartal 2022 sowie für das erste Quartal 2023 aus.

 

Stimmungsindikatoren, die sich mit der Zeit in Wirtschaftsrealität verwandeln können

Der Pessimismus in Bezug auf die kurzfristigen Wirtschaftsaussichten Europas rührt von der überwältigenden Kombination von Problemen her mit denen sich die europäische Wirtschaft aktuell konfrontiert sieht. Diese werden sich aller Voraussicht nach erst in den kommenden Monaten in realen Verhaltensanpassungen der Verbraucher und Produzenten sowie in einer greifbaren Verlangsamung der realisierten Wirtschaftsdaten niederschlagen. Die europäische Inflationsexplosion und die ausgelöste Lebenshaltungskostenkrise, der Ukraine-Krieg, anziehende Renditen und die Verlangsamung der globalen Nachfrage hat die europäischen Stimmungsindikatoren auf breiter Front einbrechen lassen.

Besonders schwach ist die Stimmung auf der Verbraucherseite, wo das Verbrauchervertrauensbarometer der OECD für Europa auf ein Allzeittief gefallen ist. Auch bei den Produzenten ist die Stimmung trübe, und die Einkaufsmanagerindizes (PMIs) für das verarbeitende Gewerbe der Euroländer befinden sich mit 47,3 Punkten in einem stark kontraktiven Bereich. Historische Vergleiche zwischen den PMI-Werten und den später publizierten Zahlen zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts deuten auf eine starke Korrelation hin, und derart schwache Einkaufsmanagerindizes signalisieren eine rezessive Wirtschaftsentwicklung. Obwohl die aktuelle Datenlage bezüglich des realisierten Wirtschaftswachstums insofern also noch relativ intakt aussieht, halten wir es für angebracht, sich auf einen frostigen, wenn auch nicht unbedingt katastrophalen, ökonomischen Winter in der Eurozone einzustellen. 

Inhalt

Lesedauer: 5 min.


Weitere Artikel aus dieser Rubrik

Demographie: Acht Milliarden

Das Wichtigste in Kürze: Die Demographie befindet sich in einem massiven Wandel und hat enorme Auswirkungen auf die...

China: Der Staub legt sich

Das Wichtigste in Kürze: Nach dem Parteikongress ist eine Verschiebung von wirtschaftlichen hin zu ideologischen...